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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (27 page)

Sofort wünschte er sich von ganzem Herzen, er hätte es nicht getan.
»Sebastian?«, flüsterte Lynnea hinter ihm.
Diesmal drückte er ihre Hand fester und bedeutete ihr, zu schweigen. Sein Herz schlug heftig, als er in den Raum blickte.
Sie hatten keine Chance gehabt. Etwas hatte sie so schnell angegriffen, dass die meisten Mädchen nicht einmal mehr genug Zeit gehabt hatten, um einen Fluchtversuch zu unternehmen.
Er schüttelte den Kopf, als ob er so das Schlachtfeld, zu dem der Raum geworden war, verschwinden lassen könnte. Es konnte nicht wahr sein. Dies hier waren Landschafferinnen; Frauen, die in der Lage sein sollten, die anderen Bewohner Ephemeras zu beschützen, bis der Weltenfresser vernichtet war. Dass er jetzt die Folgen eines solchen Gemetzels in ihrer Schule ansehen musste …
Dann traf ihn eine Erkenntnis. Die Leichen waren nicht frisch. Wenn sie sich nicht in einem anderen Teil des Gebäudes versteckt hatten, weil sie immer noch angegriffen wurden, hätten die anderen die Leichen schon lange weggeräumt, anstatt sie hier verrotten zu lassen.
Wenn überhaupt noch jemand am Leben war.
Eiskalte Gewissheit ergriff ihn. Dies war kein vereinzelter Angriff. Wenn er es wagen würde, sich die Zeit zu nehmen, um in diesem oder in einem anderen Gebäude weitere Zimmer zu untersuchen, würde er dasselbe Bild vorfinden. Tod und Vernichtung. Vielleicht waren die meisten Landschafferinnen in ihre Gärten geflohen und in andere Landschaften übergetreten. Vielleicht waren die Brückenbauer in der Lage gewesen, zu entkommen,
bevor die Welle des Todes, die diesen Teil der Schule überrollt hatte, sie erreichte. Vielleicht.
Es spielte keine Rolle, ob die meisten von ihnen es geschafft hatten oder hier unter den Toten lagen. Jetzt bedeutete die Abwesenheit anderer Menschen nur eines: Lynnea und er waren vielleicht die einzigen noch lebenden Personen in der Schule.
Und somit auch die einzige Beute.
Im verzweifelten Versuch, so schnell wie möglich dem geschlossenen Raum zu entkommen, fuhr er herum und zog Lynnea zur Tür nach draußen, denn hier wäre es ein Leichtes, ihnen jeden Fluchtweg abzuschneiden. Was auch immer sich hier aufhielt, wenn sie das Dämonenrad erst einmal erreicht hatten, könnten sie der Gefahr entkommen. Und wenn sie das Gelände verlassen hatten …
Sie rannten durch die Tür in Richtung des Dämonenrads, blieben dann aber angesichts des Bildes, das sich ihnen bot, wie angewurzelt stehen.
Das vordere Ende der Maschine war in einem trüben Gewässer versunken. Der Dämon befand sich nicht mehr in dem Rad, aber etwas trieb mit dem Bauch nach oben knapp unter der Wasseroberfläche. Der Körper der Kreatur war zu dunkel, um im Licht der Abenddämmerung Größe oder Form erkennen zu können, aber auf dem helleren Bauch konnte man die tödlichen Wunden scharfer Klauen sehen.
Das Dämonenrad hatte gekämpft, aber es hatte nicht gewonnen.
»So wie das Pferd«, flüsterte Lynnea. »Als Ewan mich auf der Straße stehen gelassen hat, bin ich ihm hinterhergelaufen. Als ich zur Kurve bei der Brücke kam, kämpfte das Pferd im Wasser und … etwas hat es nach unten gezogen.«
Am Ufer des Teichs sah der Boden noch fest genug aus. Sie könnten um den Teich herumgehen und versuchen, rennend das Haupttor zu erreichen. Es sei denn …
»Dieser Sand mit der seltsamen Farbe«, sagte Lynnea mit kaum hörbarer Stimme. »Auf der Straße habe ich diesen Sand auch gesehen. Als ich zur Brücke gelaufen bin, war er noch nicht da. Er ist erst aufgetaucht, während ich überlegt habe, ob ich über die Brücke gehen oder die Straße zurücklaufen sollte, um Hilfe zu holen.«
Einen Moment lang befand er sich wieder in der Gasse im Pfuhl und spürte den Sand unter seinen Füßen.
»Der Weltenfresser jagt wieder … Die Landschaften, die mit Ihm eingeschlossen waren, sind frei.«
Der Weltenfresser war
hier
und schuf genau in diesem Moment aus der Schule der Landschafferinnen Teile Seiner eigenen dunklen Landschaften. Aber Er hatte noch nicht alles verändert. Solange Lynnea und er auf dem Boden blieben, der noch zur Schule gehörte, bestand die Möglichkeit, zu entkommen.
Aber noch während sich dieser Gedanke in seinem Kopf formte, sah er, wie sich der Erdboden hinter dem Sand und der trüben Wasserfläche in einen Sumpf verwandelte, der sich bis zu den Mauern erstreckte, die die Schule einfassten.
Ein Gefühl, das zu urtümlich war, um es in Worte fassen zu können, veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen und das Gebäude anzublicken.
War
das nur ein Schatten an der Wand? Oder war es ein Jäger, der mit seiner Umgebung verschmolz?
Er ließ Lynneas Hand los und legte sich den anderen Riemen des Bündels über die Schulter, um es bequemer auf dem Rücken tragen zu können. Es wäre vernünftiger gewesen, das Päckchen fallen zu lassen, aber er wollte nichts zurücklassen, das man dazu verwenden könnte, sie aufzuspüren.
Wächter und Wahrer! Wie sollten sie hier wieder herauskommen?
Sebastian stockte der Atem, als ihm die Antwort einfiel: Gloriannas Garten.
Sie müssten sich tiefer in die Schule hineinbegeben, genau auf das Versteck des Feindes zu.
Etwas kam raschelnd näher, verborgen durch das schwindende Licht.
Sie hatten nur diese eine Chance.
Er griff nach Lynneas Hand. Entweder würden sie beide entkommen oder keiner von ihnen. Er würde sie nicht zurücklassen, damit sie das gleiche Schicksal traf, wie die Menschen, die er in dem Klassenzimmer gesehen hatte.
Er führte sie zurück zum Schulgebäude. »Wir müssen den Garten meiner Cousine erreichen«, sagte er leise. »Wenn ich es sage, rennst du wie ein Hase. Hast du mich verstanden?«
Sie schaute starr geradeaus und nickte. »Da kommt etwas.«
»Ich weiß.« Er besann sich einen Moment, um sich die Karte in Erinnerung zu rufen, die Glorianna gezeichnet hatte, weil er sich nicht traute, Zeit zu verschwenden, indem er erst die Leinenserviette aus seiner Jackentasche zog. Die Sonnenuhr war der erste Orientierungspunkt.
Glorianna.
Er konzentrierte sich, konzentrierte sich auf die Notwendigkeit, ihren Garten zu finden … und hoffte, dass etwas - Wächter, Wahrer oder Ephemera selbst - seine innige Bitte um Hilfe erhören und ihm beistehen würde, das Stück Boden zu finden, das ihre Resonanz trug.
Glorianna. Glorianna.
»Fertig?«
Lynnea drückte als Antwort seine Hand.
»Lauf!«
Wesen, die direkt aus einem Albtraum zu stammen schienen, verfolgten sie. Ameisen, so lang wie sein Unterarm. Spinnen, so groß wie Hunde. Und Dinge, für die er keinen Namen hatte.
Der gepflasterte Weg unter ihren Füßen fühlte sich schwammig an, fließend, als ob die Steine sich im nächsten Moment zwischen zwei Schritten in etwas anderes verwandeln würden.
Wir sind in der Schule. Wir sind in der Schule. Wir sind in der Schule.
Wieder und wieder sagte er diese Worte vor sich hin, in der Hoffnung, dass es sie davor bewahren würde, in eine der Landschaften des Weltenfressers zu geraten. Aber in seinem Innersten sang sein Herz etwas anderes:
Glorianna, Glorianna, Glorianna.
Hier sollte die Sonnenuhr stehen, genau vor ihnen. Aber da war nichts als eine kreisrunde Fläche voller blasigem Schlamm.
Keine Orientierungspunkte mehr. Nichts, das sie führen könnte.
»Wo …?« Lynnea rang nach Luft.
Sie mussten in Bewegung bleiben oder sterben.
Glorianna, Glorianna, Glorianna.
»Hier entlang.«
Er rannte, zog Lynnea mit sich, ließ sich von seinem Instinkt leiten. Ein Labyrinth aus Gärten, die sich zu sehr ähnelten, um sie zu unterscheiden. Mauern und Mauern und Mauern. Das Licht war fast erloschen. Sie würden den Weg durch das Labyrinth niemals finden, wenn das Licht erst ganz verschwunden war.
Aber er verließ den einen Pfad und folgte einem anderen, als ob ein Seil um seine Brust ihn nach vorne gezogen hätte.
Glorianna, Glorianna.
Dann sah er ihn. Von außen war kein Unterschied zu den anderen zu erkennen, aber er wusste, dass es ihr Garten war.
»Hier«, keuchte er und rüttelte an dem schmiedeeisernen Tor, als ob das ausreichen würde, um das Schloss aufzubrechen. Selbst wenn er es zerbrach, war hinter dem Tor eine hölzerne Tür, die wahrscheinlich von innen verschlossen war, denn er konnte keine Möglichkeit erkennen, sie von dieser Seite zu öffnen.
Er hatte keine Zeit, um herauszufinden, ob die Magie der Zauberer die Türen öffnen konnte. Irgendwo im Gewirr der Gärten hatten sie die Verfolger abgehängt, aber
die Kreaturen würden nicht lange auf Abstand bleiben. Nicht mit der Aussicht auf frische Beute.
»Du musst klettern.« Er packte sie mit beiden Händen an der Hüfte und hob sie ein Stück empor, damit sie mit den Füßen auf einer Querstange zu stehen kam. »Zieh dich rüber.« Geräusche von der Wegkreuzung hinter ihnen.
»Jetzt!«
Er wich einen Schritt zurück, um einen Tritt ins Gesicht zu vermeiden, als Lynnea ihre Beine über das Tor schwang. Mit einem Fuß trat er auf einen Stein und stolperte. Er griff nach dem Tor, um nicht hinzufallen - und fand sich plötzlich auf Augenhöhe mit der Messingtafel wieder, die neben dem verschlossenen Tor an der Mauer befestigt war.
In die Tafel waren ein Datum und das Zeichen der Zauberer eingeprägt, das besagte, dass dies ein verbotener Ort sei.
Er vergaß die Gefahr, die sich ihm näherte. Alles verblasste zur Bedeutungslosigkeit, als er das Datum auf der Tafel anstarrte.
Dann schrie Lynnea: »Sebastian!«
Plötzlich war er sich der unmittelbaren Gefahr wieder bewusst und schnappte sich den Stein, über den er gestolpert war.
Riesenhafte Ameisen und Spinnen rasten auf ihn zu. Ganz vorne lief etwas, das aussah wie eine in die Länge gezogene Spinne mit zwei schwarzen Augen und Kiefern, die stark genug waren, seine Oberschenkelknochen zu zermalmen.
Ein tödlicher Aspekt der Magie, über welche die Zauberer verfügten, trug den Namen »Blitz der Gerechtigkeit«. Magische Blitze, die einen Menschen töten konnten. Er wurde eingesetzt, wenn eine Person als so gefährlich erachtet wurde, dass man sie vernichten musste, anstatt sie zur Strafe in eine dunkle Landschaft zu schicken.
Unglücklicherweise hatte er keine Ahnung, wie man diese Art der Magie herbeirief oder kontrollierte. Aber in ihm bäumte sich jetzt rohe Macht auf, und er leitete sie - und seinen Zorn - in den Stein, den er in der Hand hielt.
Das spinnenähnliche Wesen kam mit erschreckender Geschwindigkeit auf ihn zu. Die anderen folgten nicht weit dahinter.
Teils aus Wut, teils aus Verzweiflung, schrie er laut auf und warf den Stein auf das Spinnenwesen. Er traf die Kreatur genau zwischen die Augen und dann -
Sebastian riss die Arme nach oben, um seine Augen zu schützen, als grelle Lichtblitze aus dem Stein schossen und das Spinnenwesen und die Kreaturen, die ihm am nächsten waren, verbrannten.
Er blinzelte, schüttelte den Kopf und kletterte dann eilig über das Tor. Als er sich an der anderen Seite heruntergelassen hatte, lehnte er sich gegen die Steinmauer.
»Sebastian?« Lynnea lief auf ihn zu.
»Nicht!« Seine Hand prickelte noch immer von der freigesetzten Magie. Weil er sich ziemlich sicher war, dass der magische Blitz normalerweise nicht so zersplitterte, wollte er nicht, dass sie ihn berührte, bis er davon überzeugt war, dass er sie nicht auch versengen würde.
»Auf dieser Seite der Mauer gibt es keine Tür«, sagte Lynnea und blickte auf die massive Steinmauer. »Warum ist hier keine Tür?«
Weil sie versucht haben, ihren Garten zu versiegeln. Weil... Verdammt seiest du, Lee! Du hast mir nie erzählt, warum. All die Jahre und du hast mir nie erzählt, warum.
Er stieß sich von der Wand ab und sah sich um. Ein überwucherter, verlassener Garten - mit einem Fluchtweg, der im Brunnen in seiner Mitte verborgen lag.
»Hier lang. Beeil dich.« Lynnea ging dicht hinter ihm, aber er traute sich noch immer nicht, sie zu berühren, während er einem Pfad in die Mitte des Gartens folgte.
Als er den Brunnen erreichte, lief er um ihn herum und hielt Ausschau nach dem, was hier verborgen lag und sie von diesem Ort fortbringen würde. Auf den Steinen, die den Brunnen formten, wuchs Moos, und der größte Teil des Wassers war von grünen Schlieren überzogen.
Nichts! Aber irgendetwas hier zog ihn an.
Er kniete nieder und tauchte eine Hand in das Wasser. Seine Finger strichen leicht über die Steine - und sein Herz machte einen Sprung, als er hörte, wie die Kreaturen miteinander um die Überreste derer kämpften, die er getötet hatte. Aber die verkohlten Leichen würden rasch uninteressant werden, wenn die Überlebenden in der Nähe frische Beute spürten.
Seine Hand bewegte sich durch das Wasser. Dann fühlte er ein Prickeln, ein Ziehen, ein Gefühl der Wärme genau … dort.
Seine Hand verharrte über dem Stein, und er erinnerte sich plötzlich an etwas, was Lee ihm während eines Besuches im Pfuhl erzählt hatte.
»Die Leute nehmen immer an, dass Brücken so groß sein müssen, dass man wirklich über sie hinübergehen kann«, hatte Lee gesagt. »Aber eine Einmalbrücke kann so klein sein, dass sie in deine Hand passt.«
Sebastian hörte auf, in den Resten seines Abendessens herumzustochern und sah seinen Cousin mit gerunzelter Stirn an. »Eine Einmalbrücke?«
»Ein kleiner Gegenstand, den ein Brückenbauer mit gerade genug Macht für einen Übergang in eine bestimmte Landschaft angefüllt hat.«
»Hört sich nicht besonders nützlich an.«
Lee zögerte und sagte dann leise: »Manchmal ist es die einzige Möglichkeit, von einem Ort zu entkommen.«
Zu dumm, dass Lee ihm nicht erklärt hatte, wie diese Einmalbrücken funktionierten. Musste er irgendetwas tun? Oder würde er in dem Moment, in dem sich seine
Hand um den Stein schloss, in eine andere Landschaft gezogen werden?
»Sebastian«, flüsterte Lynnea.
Er blickte auf. Sah eines der Spinnenwesen über die Mauer klettern.
»Nimm meine Hand«, sagte er. Er wagte nicht, sich umzublicken, um zu sehen, was vielleicht sonst noch über die Mauer kam.

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