Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (22 page)

Was sagte das also über sie?
Mutter hatte wohl recht. Ich muss ein schlechter Mensch sein.
Warum wäre sie sonst im Pfuhl gelandet, wenn alles, wonach sie gesucht hatte, ein sicherer Ort war? Aber sie fühlte sich sicher. War es nicht merkwürdig, sich an einem Ort wie diesem sicher zu fühlen?
Lynnea schlug das Laken und die leichte Decke zurück und sah sich in dem Raum um.
Sie ging ins Badezimmer, wusch sich und experimentierte dann so lange mit dem Wasserhahn der Badewanne herum, bis sie herausfand, wie man sich ein Bad einließ.
Heißes Wasser, einfach indem man einen Hahn aufdrehte. Wie dekadent!
Vielleicht war es ja doch gar nicht so schlecht, ein schlechter Mensch zu sein.
Ein paar genussvolle Minuten lag sie einfach in der Badewanne, dann erinnerte sie sich an die Tür, die in ein anderes Schlafzimmer führte. Wartete etwa im anderen Raum jemand darauf, dass sie fertig wurde? Sie schrubbte sich mit dem Waschlappen und der leicht duftenden
Seife ab, die sie zusammen mit zwei sauberen Handtüchern gefunden hatte, und wusch sich die Haare.
Nachdem sie sich ein Handtuch um den Kopf geschlungen und sich mit einem anderen abgetrocknet hatte, säuberte sie die Wanne für den nächsten Gebrauch und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück.
Am Fuß des Bettes stand eine große Truhe. Auf ihr lag, ordentlich zusammengefaltet, saubere Kleidung. Damenhosen aus Baumwolle, die ihre Beine anständig von der Hüfte bis zum Knie bedecken würden und, ebenfalls aus Baumwolle, ein Unterhemd, das -
Sie hob es hoch und versuchte herauszufinden, wofür die zweite Schicht Stoff gut war. Dann errötete sie und ließ das Hemd wieder fallen.
Mutter hatte gesagt, nur leichte Mädchen aus der Stadt trügen Büstenhalter, um ihre Titten nach oben zu drücken und die Männer dazu zu verleiten, sich wie Narren zu benehmen. Oder noch schlimmer, sich zu verhalten wie Tiere, die hinter einer heißen Hündin her waren.
Hielt Sebastian sie etwa für ein leichtes Mädchen? Wahrscheinlich. Sie
hatte
ihm angeboten, mit ihr zu schlafen. Oder doch nicht? Sie war so müde gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, ob sie es nur gedacht oder laut gesagt hatte.
Oder vielleicht war dies die sittsamste Unterwäsche, die sich im Pfuhl auftreiben ließ. Der Rest der Kleider unterschied sich nicht sehr von der Alltagskleidung der Frauen und Kinder wohlhabender Bauern, auch wenn die Materialien außergewöhnlich waren.
Das langärmelige blaue Oberteil war dehnbar genug, dass sie es über den Kopf ziehen konnte. Das ärmellose dunkelblaue Überkleid war an Hals und Schultern eingeschnitten, so dass man einen halben Fingerbreit des Oberteils sehen konnte. Es war nicht ganz knöchellang und auf einer Seite geknöpft. Die Strümpfe reichten bis
zum Knie, und die Schuhe waren stabil genug für einen langen Marsch über die Felder.
Bauernkleidung. Sie war sich nicht sicher, warum sie enttäuscht war, schließlich waren die Kleider neu und aus schönem Stoff. Aber angezogen wie für ein Erntefest hatte sie das Gefühl, noch weniger in der Lage zu sein, mit dem fertig zu werden, was sie hinter dieser Tür erwartete.
Als sie die Handtücher ins Badezimmer zurückbrachte, entdeckte sie in einem kleinen Schränkchen zwischen dem Waschbecken und dem Spiegel einen Kamm. Als sie ihr Haar so gut zurechtgemacht hatte, wie sie konnte, blickte sie in den Spiegel und erschrak. Ihre Naturlocken - die Locken, die Mutter so erbost hatten, dass sie mehr als einmal gedroht hatte, Lynneas Haar bis auf die Kopfhaut abzuschneiden - schienen ihre Freiheit damit zu feiern, dass sie sich noch stärker kringelten als sonst. Auf dem Weg von der Brücke in den Pfuhl hatte sie alle ihre Haarnadeln verloren, und das Einzige, was die Locken bändigen konnte, war sie nass zu machen und in einem strengen Knoten zurückzubinden - und selbst das half meistens nicht.
Sie konnte jetzt nichts dagegen tun.
Gerade als sie das Badezimmer verließ, klopfte jemand sachte von außen an die Tür. Dann betrat Sebastian den Raum, noch immer gekleidet wie der schlechte Einfluss in Person und noch gut aussehender, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Und ihr Herz tat einen freudigen kleinen Sprung.
 
Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, einen Tritt in den Unterleib zu bekommen.
Sein kleines Häschen hatte sich verdammt gut herausgeputzt. Natürlich und wunderhübsch, süß und ein wenig schüchtern. Und unsicher. Definitiv unsicher. Als ob ein Teil von ihr, der eigentlich in voller Blüte stehen sollte,
wieder und wieder brutal zurückgeschnitten worden war - und sich trotzdem geweigert hatte, zu verdorren und abzusterben.
Sie gehört nicht hierher.
Bei diesem Gedanken zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Als er in das Zimmer geschlichen war, nachdem der Schlaf sie übermannt hatte, um ihre alten Sachen mitzunehmen und sie bei Mr Finch durch neue ersetzen zu lassen, hätte er gewöhnliche Kleider aus dem Regal nehmen sollen, anstatt den kleinen Mann nach einem »Bauernkostüm« zu fragen. Vielleicht hätte es ihre natürliche Schönheit geschmälert, sie anzuziehen wie ein Sukkubus, hätte es einfacher gemacht, sie zu verführen und sich an der willenlosen Lust zu laben, die er in ihr wecken konnte.
Aber er hatte Kleider ausgewählt, die eher in die Landschaft passten, aus der sie vermutlich kam, und jetzt …
Sie machte ihm Angst. Er sah sie an und erkannte, dass er nicht all die Jahre aus einer Art Mitleid, Güte oder sogar Spaß heraus den Liebhaber für all die einsamen Frauen in anderen Landschaften gespielt hatte. Ja, er brauchte die Gefühle des sexuellen Vergnügens zum Überleben, und das Geld und die Geschenke erlaubten ihm, gemessen am Standard des Pfuhls, recht gut zu leben, aber jetzt fragte er sich, ob er nicht von diesem bestimmten Typ Frau angezogen worden war, weil er nach
ihr
gesucht hatte. Nur nach ihr.
Und jetzt war sie hier, an einem Ort, an den sie nicht gehörte und er …
Ein paar Stunden. Nur ein paar Stunden mit ihr - und, vielleicht das Glück, ihr Liebhaber zu sein. Nur einmal.
Ihre Finger strichen leicht über den Saum des Überkleids. »Danke«, sagte sie leise.
»Ich bin froh, dass es dir gefällt.« Er durchquerte den Raum und streckte eine Hand aus, um mit den Fingerspitzen ihr Haar zu berühren. »Wie hast du das gemacht?«
»Oh.« Sie hob eine Hand und fasste sich an die andere Seite des Kopfes. »Das macht es von ganz alleine. Ich habe keine Haarnadeln mehr.«
»Das ist gut. Es ist wunderschön, so wie es ist.«
Sie sah ihn an, als hätte er sie gerade bedroht, anstatt ihr ein Kompliment zu machen.
Wie musste ihr Leben bisher nur verlaufen sein, dass ein Kompliment ihr solche Angst einjagte?
»Du hast ein paar Stunden geschlafen. Du könntest sicher noch eine Mahlzeit vertragen.« Er ließ seine Finger an ihrem Arm herunterwandern, bis er ihre Hand berührte. Er schob seine Finger zwischen ihre und führte sie aus dem Raum.
Das Zittern setzte ein, als sie auf die Straße traten und sie sich umsah. Die Hauptstraße wirkte nicht ganz so heruntergekommen wie vor ein paar Stunden, aber dies hier war der Sündenpfuhl, ein Ort, an dem die Sonne niemals aufging. Der Pfuhl hatte einen ganz anderen Charakter, als dunkle Orte anderer Landschaften, über welche die Nacht und ihre Raubtiere nur einen Teil des Tages herrschten.
In diesen Kleidern, in denen sie eher auffiel, als mit der Umgebung zu verschmelzen, schrie sein kleines Häschen geradezu »Beute«, und obwohl Teaser sie schon im Voraus gewarnt hatte, konnten die anderen Inkuben nicht widerstehen, sich auf der Straße herumzutreiben, um sie sich anzusehen. Aber keiner würde sich ihnen nähern. Nicht, wenn Sebastian sie so ausdrücklich für sich selbst beansprucht hatte.
Als er Lynnea an einen Tisch in Philos Innenhof führte, musterte er automatisch die anderen Gäste und prägte sich die Gesichter der Besucher ein. Als er jünger war, hatte er die Fremden betrachtet, um herauszufinden, welche von ihnen seine Vorstellung von Spaß wohl am ehesten teilen würden, und das tat er auch heute noch. Aber über die Jahre hinweg hatte er damit begonnen, genauer
hinzusehen, weil der Pfuhl sein Zuhause war und manche Leute Ärger suchten, den er hier nicht haben wollte. Und aus irgendeinem Grund fanden die Personen, die ihn nervös machten, nie wieder zurück in den Pfuhl.
»Willkommen, willkommen«, sagte Philo und eilte mit einem vollen Tablett geschäftig an ihren Tisch. Der Blick, den er Lynnea zuwarf, war immer noch skeptisch, aber nachdem er ihre neue Kleidung in Augenschein genommen hatte, entspannte er sich ein wenig. Er stellte zwei Tassen, ein kleines Kännchen Sahne und eine Schale mit Zucker auf den Tisch. »Etwas zu essen, ja?«
Er verschwand bevor die beiden etwas sagen konnten.
»Er hat gar nicht gefragt, was wir wollen«, stellte Lynnea fest und ließ ihren Blick ängstlich und besorgt durch den Innenhof schweifen.
»Er fragt so gut wie nie«, antwortete Sebastian. Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Tasse vor ihr. »Philo macht ihn stark, also solltest du vielleicht ein bisschen Sahne und Zucker nehmen.«
Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen vorsichtigen Schluck. Ihre Augen weiteten sich. »Ach herrje. Was
ist
das?«
Sebastian grinste. »Kaffee.«
Sie probierte noch einmal, nahm dann ein Stück Zucker und etwas Sahne und trank noch einen Schluck. »Du meine Güte.« Sie klang wie eine Frau, die man gerade genau an der richtigen Stelle berührt hatte.
Sebastian sah ihr zu und hob seine Tasse, um ein Lächeln zu verbergen. Selbst die erotischen Statuen konnten nicht um die Aufmerksamkeit seines kleinen Häschens konkurrieren, solange es Kaffee gab.
Nach der ersten Tasse kehrte Philo zurück und stellte zwei Teller auf den Tisch. In Scheiben geschnittenes Steak, Buttertoast und ein mit Kartoffeln, Zwiebeln und Paprika gefülltes Omelett. Er füllte ihre Tassen auf und kümmerte sich wieder um seine anderen Gäste.
Sebastian stocherte nur in seinem Essen herum, um sich zu beschäftigen. Er brauchte eine Gelegenheit, um seinen Plan ins Rollen zu bringen, aber Lynnea stürzte sich mit einer solchen Begeisterung auf ihr Frühstück, dass er ihr nicht den Appetit verderben wollte, indem er über etwas sprach, was sie aus der Fassung bringen könnte. Also aß er ebenfalls, während er die Inkuben und Sukkuben auf ihrem Beutezug betrachtete und den Besuchern zusah, wie sie auf der Suche nach einem Bordell, einer Spielhölle oder einer Taverne, in der sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken konnten, durch die Hauptstraße schlenderten. Der Pfuhl war ein Ort, an dem man den Lastern, die in den Landschaften des Tageslichts verpönt waren, in aller Öffentlichkeit frönte. Wenn ein Mann seinen gesamten Monatslohn versaufen, verspielen oder für ein paar Huren ausgeben wollte, so waren ihm die Bewohner des Pfuhls mehr als gerne behilflich dabei. Wenn eine gelangweilte, reiche Ehefrau für die Zeit und die besonderen Talente eines Inkubus bezahlen wollte, so war das ihre Entscheidung - und wenn sie deswegen in ihrer eigenen Landschaft Schwierigkeiten bekam, so war es ihr Problem.
Selbstverständlich fanden die Bewohner des Pfuhls es immer sehr unterhaltsam, wenn eine gelangweilte, reiche Ehefrau und ihr ebenso gelangweilter, reicher Mann sich auf einem Bordellflur begegneten. Und diese Begegnungen bestätigten, was die Bewohner des Pfuhls schon lange wussten: Auf seine eigene Art war der Pfuhl ehrlicher als die Landschaften des Tageslichts, denn die wenigen Regeln, die es gab, galten für alle, unabhängig von Rasse oder Geschlecht.
Als Lynnea sich schließlich zufrieden seufzend zurücklehnte, schob Sebastian seinen Teller zur Seite und ergriff ihre Hand. Die Berührung ließ sie erzittern, und das kleine Häschen starrte den Wolf an, der versuchte, beim Gedanken an das bevorstehende Festmahl nicht zu geifern.
»Sag mir, was du willst Lynnea«, begann er. »Wenn du für ein paar Stunden haben könntest, was auch immer du dir wünschst, was wäre es?«
Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Sein Puls raste, aber er zwang sich dazu, sie nicht auf seinen Schoß zu ziehen und zu küssen, bis sie beide nicht mehr wussten, wo sie waren, und es sie auch nicht länger interessierte. Er hielt einfach nur ihre Hand und wartete.
»Ich wäre gerne …« Sie schloss die Augen. »Ich wäre gerne stark und mutig. Ich hätte gerne nicht mehr die ganze Zeit Angst. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es ist, keine Angst zu haben.«
»Erledigt«, sagte Sebastian zärtlich.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an, den Blick voller Unverständnis.
»Habe ich erwähnt, dass ich nicht nur ein Inkubus, sondern auch ein Zauberer bin?«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er auf einmal spürte, wie in ihm etwas zerbrach, als ob ein Teil von ihm nur darauf gewartet hätte, endlich erkannt zu werden. Die Wahrheit seiner Worte erfüllte ihn, überwältigte ihn.
Wächter und Wahrer! Er war ein
Zauberer.
Das konnte nicht sein. Unmöglich.
Warum nicht?
Weil … Hätte er es nicht gewusst? Hätte Koltak es nicht gewusst?
Oder war das der Grund, aus dem Koltak den verhassten Sohn immer und immer wieder zurück in die Stadt der Zauberer gebracht hatte? Was hätte Koltak mit einem Sohn getan, den ein Sukkubus zur Welt gebracht hatte, wenn dieses Kind Anzeichen einer magischen Begabung an den Tag gelegt hätte?
Er wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte diese Worte nur ausgesprochen, um Lynnea einen Anlass zu geben, die Fesseln ihrer Vergangenheit abzuschütteln.
Stattdessen hatte er für sich selbst die Tür zu einer neuen und Furcht einflößenden Zukunft aufgestoßen.
Macht ohne Kontrolle. Gab es etwas Gefährlicheres in einer Welt, die sich ständig veränderte, um der Resonanz der Herzen zu entsprechen? Alles, was er über die Magie wusste, die die Zauberer angeblich ausübten, hatte er aus Geschichten gelernt, aus Gerüchten über Dinge, die sie laut Hörensagen anderen Menschen angetan hatten. Er musste mit jemandem darüber sprechen, aber wem konnte er vertrauen? Lee? Glorianna? Vielleicht. Oder würde ihre starke Abneigung gegenüber Zauberern sie dazu bringen, sich von ihm abzuwenden, wenn sie es erfuhren? Tante Nadia?

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