Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (15 page)

An dem Tag vor fünfzehn Jahren, als sie eine feste Steinmauer fand, wo eigentlich das Tor zu ihrem Garten hätte sein sollen, hatte sie angenommen, dass es ein weiterer Teil der »Prüfung« war. Es hätte Wochen dauern können, bis sie die Bedeutung der Mauer entdeckt hätte, wenn die Lehrer ihr alle ihre Bücher mitgegeben hätten, als sie sie für die »Prüfung« einschlossen. Aber so übertrat sie die Grenze zwischen Hier und Dort in einem Wimpernschlag, indem sie aus ihrem Garten hinaus und zur Sanduhr trat.
Aber sie war nicht zu ihrem Zimmer in dem Gebäude, in dem die Schülerinnen untergebracht waren, zurückgekehrt. Stattdessen war sie zu ihrem Garten zurückgelaufen,
um sich das Tor von außen anzusehen und um herauszufinden, warum es zu einer festen Steinmauer geworden war, damit sie es zurückverwandeln und so diesen Teil der »Prüfung« bestehen konnte.
Das war der Moment, in dem sie das Siegel der Zauberer auf dem schmiedeeisernen Tor entdeckte und erkannte, dass die Mauer nur für jemanden innerhalb des Gartens existierte. Das war der Moment, in dem ihr Vertrauen in die Menschen, die klug genug sein sollten, um Entscheidungen über das Leben anderer zu treffen, zu Asche zerfiel. Die Reste ihrer Gutgläubigkeit wurden davongetrieben vom beißenden Wind des Zorns und der Schmerzen … und der Angst.
An diesem Tag verlor sie ihre Unschuld, und weil sie sie verlor, begann der nächste Abschnitt auf der Reise ihres Lebens, der sie so gefährlich werden lassen würde, wie die Zauberer und Lehrer es gefürchtet hatten.
Glorianna schüttelte den Kopf. Dies war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für düstere Erinnerungen, vor allem nicht, wenn der Weltenfresser sich irgendwo in den Gärten versteckte. Die Resonanz, die dunkle Gedanken im Herzen hervorriefen, würde Ihn anziehen, und sie war nicht bereit, Ihm entgegenzutreten. Wusste nicht, ob sie ihm entgegentreten
konnte.
Sie fuhr mit ihren Fingern leicht über die Sanduhr, als sie an ihr vorbeiging, und konzentrierte sich darauf, wo sie jetzt sein musste. In diesem Moment, zwischen einem Schritt und dem nächsten, wurden die sandfarbenen Steinplatten unter ihren Füßen zu einem überwucherten Pfad in einem verlassenen Garten.
Ein plötzlicher, sehnsüchtiger Schmerz durchfuhr sie, ließ sie stehen bleiben und sich umsehen. Der Garten hätte wunderschön, hätte gehegt und gepflegt sein sollen. Es hätte der ihre sein sollen.
Für so etwas hast du keine Zeit. Nimm, weswegen du gekommen bist, und verschwinde von hier.
Mit geballten Fäusten, um der Versuchung zu widerstehen, ein paar der Blumen, die noch immer gegen das erstickende Gewirr aus Unkraut kämpften, zu befreien, ging sie in den Garten hinein, in dessen Mittelpunkt noch immer der kleine Brunnen sprudelte und klares Wasser über die Steine in den Teich laufen ließ, in dessen Mitte er stand.
An dem Tag, als sie das Siegel entdeckt hatte, war sie nach Hause gerannt. Sie war gerade lange genug in diesen Garten zurückgekehrt, um in die Landschaft überzutreten, die ihrer Mutter unterstand - ein Ort der Sicherheit, an dem sie all die Schmerzem und die Bitterkeit aus sich herausweinen konnte.
»Du musst einen anderen Ort finden, an dem du deine Landschaften verankern kannst, meine Tochter. Du musst einen neuen Garten anlegen, an einem Ort, den deine Feinde nicht erreichen können.«
»So einen Ort gibt es nicht!«
»Doch, den gibt es. Wenn du willst, dass es ihn gibt, wirst du ihn auch finden. Brich die Verbindung zur Schule ab, und ich werde dich alles lehren, was ich kann.«
»Mutter, ich bin jetzt eine Ausgestoßene. Wenn du mir hilfst …«
Sie sah ihrer Mutter in die Augen, und der Zorn, der in ihnen brannte, überwältigte sie.
»Du wirst die Verbindung zur Schule abbrechen, habe ich recht?«, fragte sie.
»Dich zur Schule zu schicken, war ein notwendiges Risiko, genauso, wie deine Großmutter es eingegangen ist, als es an der Zeit war, dass ich eine formale Ausbildung erhalte. Jetzt besteht ein neues Risiko, und es ist zu groß, als dass ich es darauf ankommen lassen könnte. Ja, es stimmt, ich werde die Verbindung zu diesem Garten abbrechen. Aber ich verspreche dir Glorianna, ich werde nichts verlieren, von dem ich mich nicht entscheide, es gehen zu lassen.«
»Aber … Mutter -«
»Es gibt Dinge, die ich dir über unsere Familie erzählen muss, aber nicht jetzt. Noch nicht. Verlege einfach nur die Ankerpunkte deiner Landschaften an einen anderen Ort, und beeile dich damit.«
»Was ist mit Lee?«
Nadia zögerte. »Wenn es an der Zeit ist, wird er zur Schule gehen müssen und sich zum Brückenbauer ausbilden lassen.«
»Noch ein notwendiges Risiko?«
»Ja. Ein weiteres Wagnis, denn du wirst einen Brückenbauer brauchen, dem du vertrauen kannst.«
»Du legst eine schwere Last auf die Schultern eines kleinen Jungen.«
Nadias Augen füllten sich mit Trauer. »Nein, Glorianna. Nicht Lee wird die Last tragen.«
Glorianna schüttelte den Kopf, als ob dies die schwere Verzweiflung in ihr vertreiben würde.
Sein
Einfluss. Zu wenig von ihr lag noch zwischen diesen Mauern, um die Empfindungen zu bekämpfen, die Er an die Oberfläche des Geistes steigen ließ, um das Herz mit dunklen Gefühlen zu erfüllen.
Sie
musste
von hier fort.
Neben dem Teich kniend, betrachtete sie die Steine, die durcheinander am Grund des kleinen Sees lagen. Die meisten von ihnen waren einfache Steine, ohne jegliche Macht. Aber …
Mit hochgekrempelten Ärmeln tauchte sie ihre Hände in den Teich und schob die Steine hin und her, um die drei zu finden, die Brücken enthielten, die Lee geschaffen hatte.
Sie hatte getan, worum Nadia sie gebeten hatte. Sie hatte jenen sicheren, geheimen Ort gefunden und einen neuen Garten angelegt, der zu ihrer Verbindung zu den Landschaften wurde, um die sie sich kümmerte. Aber sie war hierher zurückgekehrt, nur einmal, als Lee auf die
Schule gegangen war. Dabei hatte sie drei Steine mit sich gebracht. Sie hatte sich wegen seiner Fähigkeit gesorgt, eine Landschaft über eine andere zu legen. Wenn die Lehrerschaft herausgefunden hätte, dass Lee auch nur einen kleinen Teil einer Landschaft auf diese Weise kontrollieren konnte, hätten sie ihn vielleicht zum »Wohl« Ephemeras den Zauberern übergeben.
Also hatte sie die Steine in den Brunnen gelegt, um ihm die Möglichkeit zu geben, zu fliehen, wenn die Lehrer - oder die Zauberer - sich gegen ihn wandten.
Sie kam wieder auf die Füße und betrachtete die Steine in ihren Händen. Der Achat war eine Brücke zur Schule. Sie drehte sich zur Mauer und warf den Stein, so weit sie konnte. Er beschrieb einen Bogen, traf auf den Widerstand der Magie, die den Garten versiegelte, und verschwand.
Sie wusste nicht, wo der Stein gelandet war. Vielleicht war er auf die andere Seite der Mauer gefallen. Vielleicht war er irgendwo anders gelandet. Oder nirgendwo. Man konnte nicht sagen, was die Magie der Zauberer mit etwas anstellte, was versuchte, die Mauer von innerhalb des Gartens zu überwinden.
Der zweite Stein, aus schwarzem, von roten Adern durchzogenem Marmor, war eine Brücke zum Sündenpfuhl. Diesen Stein steckte sie in die Hosentasche.
Der dritte …
Sie versuchte ihre Hand zu bewegen, um das glatte Oval aus weißem Marmor in ihre Tasche gleiten zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Etwas in ihr erzitterte - eine Art der Erkenntnis, die der Verstand nicht in Worte fassen konnte. Es war ein Gefühl, das sie immer verspürte, wenn Ephemera eingriff, um sie von etwas abzuhalten, das dem Wissen widersprach, das sie in ihrem Herzen trug.
Dies war der andere Teil der Antwort auf die Frage, wie sie aus ihrem verschlossenen Garten entkommen
konnte. Ephemera hatte sich eingemischt, indem es ihr etwas Unwiderstehliches gezeigt hatte.
Sie hatte in ihrem Garten gearbeitet und Ankerpunkte zu den Landschaften geschaffen, die ihre Resonanz trugen, selbst zu den weit entfernten. Als die Welle der Dunkelheit ihren Geist erschütterte, war ihr erster Gedanke, dass sie sich an irgendeiner Krankheit angesteckt haben müsse. Dann begann das schmeichelnde Flüstern, das versuchte, ihren Verstand zu verwüsten. Es wollte sie glauben machen, dass die Trostlosigkeit, die sie ergriffen hatte, das Einzige war, was in diesen Garten gehörte. Trostlosigkeit. Einsamkeit. Nahrung, Kleidung, Unterkunft. Ja, diese Dinge sollten Teil ihrer Landschaften sein. Aber keine Menschen. Sie sollte immer einen Schritt vom Kontakt zu anderen Menschen entfernt sein.
Allein. Für immer allein. Das war alles, was sie verdiente.
Aber etwas Dunkles und Mächtiges war in ihr aufgestiegen. Etwas Urtümliches, das die flüsternden Stimmen erkannte - und sie hasste. Bevor die Dunklen Strömungen in ihr Gestalt annehmen und Wirklichkeit werden konnten, veränderte sich der Boden neben ihr und formte einen makellosen Kreis, in dem Gras und fremdartige Wildblumen wuchsen. Der Kreis war erfüllt von einer Strömung des Lichts, deren Resonanz sie so laut rief, dass es ihr unmöglich war, zu widerstehen.
Das Flüstern verstummte, war nicht länger von Bedeutung, als sie den Kreis betrat und von Hier nach Dort überging
...
…und den Ersten der unzähligen Orte des Lichts fand, die nach ihr rufen würden, bis sie sie zu einem Flechtwerk aus Landschaften zusammengefügt hätte, das die Heiligen Stätten bilden würde.
Sie blieb zwei Tage lang, fand sowohl Gesellschaft als auch Einsamkeit in dem Maß, das sie brauchte, bis die Strömungen der Dunkelheit und die des Lichts in ihr wieder
ausgeglichen waren. Dann kehrte sie in ihren Garten zurück und brachte einen hübschen Stein mit sich, mit dem sie immer in diese ferne Landschaft zurückkehren und mehr von den Leuten lernen konnte, die sich um diesen Ort des Lichts kümmerten.
Und dann, etwa einen Monat später, hatte sie den Ankerpunkt in der Sanduhr dazu genutzt, in die Schule zurückzukehren, um den Rest ihrer Bücher zu holen. Dabei hatte sie herausgefunden, was die Lehrer und Zauberer versucht hatten.
Glorianna seufzte. Die Zauberer hatten es nicht geschafft, sie in einer winzigen, trostlosen Landschaft einzuschließen, aber die meiste Zeit fühlte sie sich dennoch, als sei sie immer einen Schritt von den anderen Menschen entfernt, selbst wenn sie mitten unter ihnen war. Die meiste Zeit fühlte sie sich einsam.
Fliehe von diesem Ort, bevor er etwas in dir verändert. Du bist ihnen vielleicht entkommen, aber die Resonanz ihres Tuns liegt noch immer über diesem Garten.
Sie ließ den Stein, der einen Weg zu den Heiligen Stätten enthielt, wieder zurück in den Teich fallen.
Dann entfernte sie sich vom Brunnen, konzentrierte sich auf den Ort, an dem sie jetzt sein musste, und ging den Schritt zwischen Hier und Dort.
Sie musste nach Aurora, musste Nadia davor warnen, dass der Weltenfresser wieder in Ephemera jagte.
 
Noch lange, nachdem er sie aus den Augen verloren hatte, stand Gregor auf dem Pfad, der zum Torbogen führte. Sein Verstand war von einem tobenden Gefühl der Wut erfüllt. Er wollte ihr hinterherrennen, sie auf den Boden drücken und mit den Fäusten auf ihr Gesicht einschlagen, wollte mit beiden Händen ihr seidig schwarzes Haar ausreißen, wollte … wollte …
Widerwärtige Kreatur. Nichts als ein Gefäß der Macht, das eine Perversion der Magie darstellte, die ein wenig
Stabilität in ihrer sich immer wandelnden Welt wahrte. In der Vergangenheit hatte es bereits andere wie sie gegeben, und die Zauberer hatten ihre Pflicht zum Wohl Ephemeras erfüllt. Sie hatten diese Anomalien in ihren Gärten eingeschlossen und ihnen gerade genug Bewegungsspielraum gelassen dass sie in der Lage waren, Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft zu finden, aber sie hatten Grenzen zwischen Ephemera und ihren Landschaften gezogen, die nicht überschritten werden konnten.
Was die Zauberer taten, wenn die Perversion der Magie sich in einer Schülerin zeigte, war nichts anderes, als die ersten Landschafferinnen getan hatten, um den einzuschließen, der …
Abartige Kreatur. Abartige, abartige Kreatur. Die einzige Perversion, die den Rechtsbringern jemals entkommen war.
Er hustete und spuckte aus.
Überwältigt von einer Welle von Übelkeit starrte er auf den Schleimklumpen auf dem Boden, als hätte er gerade etwas Giftiges ausgespieen. Welch närrischer Gedanke. Er fühlte sich einfach verseucht, weil er
sie
angefasst, weil er mit
ihr
gesprochen hatte.
Aber Lukene hatte geglaubt, dass Lehrer und Zauberer einen schlimmen Fehler begangen hatten, als sie sich mit dem Mädchen befassten. Dass sie sie verurteilt hatten, ohne mehr zu wissen. Und dass sie auf diese Weise jegliche Chance verspielt hatten, zu erfahren, warum ein fünfzehnjähriges Mädchen etwas wie den Sündenpfuhl erschaffen sollte.
Fünfzehn Jahre später wussten sie es immer noch nicht. Und sie wussten noch immer nicht, wie es ihr gelungen war.
Die Mauer wurde durchbrochen.
Lächerlich. Diese Mauer würde für immer bestehen bleiben.
Musste
für immer bestehen bleiben.
Warne die Landschafferinnen, Brückenbauer.
Wahrscheinlich steckte
sie
hinter den Vorfällen - die unerklärlichen Veränderungen in den Gärten einiger Schülerinnen -, das Mädchen, das jeden Morgen schreiend aufwachte, weil, wie sie sagte, ihr ganzer Körper von Spinnenweben bedeckt war. Sie glaubte fest daran, dass die Spinnen sich unter ihre Haut graben und sie bei lebendigem Leibe fressen würden; die zwei Jungen, die versucht hatten, eine Brücke zu einer dunklen Straße in einem Nachbarort zu erschaffen, um dort einen Krug Bier zu trinken. Irgendwie endeten sie an einem so Furcht einflößenden Ort, dass sie, nachdem sie es in die Schule zurück geschafft hatten, zu verängstigt waren,
überhaupt
noch eine Brücke zu benutzen.
Aber würde das Mädchen, das Lukene gefürchtet und von dem sie trotzdem geglaubt hatte, dass sie ein gutes Herz besaß, zwei Schülerinnen auf die gleiche Art und Weise verschwinden lassen, auf die Lukene verschwunden war?
Die Mauer wurde durchbrochen.
Wahrscheinlich eine Lüge.
Sie
war auf dem Weg
zum
Torbogen gewesen, als er sie angehalten hatte, also woher sollte sie das wissen?

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